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Die frühzeitige Mobilisierung kann für einige Patienten eine Chance sein, deutlich schneller die Intensivstation, und damit eine individuell als sehr bedrohlich empfundene Lebenssituation, zu verlassen. Ebenso bietet es möglicherweise eine Option, den Schweregrad einer Erkrankung positiv zu beeinflussen. Einen derartigen Verlauf möchte ich hier kurz schildern.
Anfang April diesen Jahres kam Herr M. nach einem Verkehrsunfall mit dem Rettungswagen in unser Klinikum. Eine Rippenserienfraktur lins mit Hämato-/Pneumothorax sowie eine Verletzung des rechten Ellenbogens mit offener Bursa wurden diagnostiziert. Ebenso einige kleinere Schürfungen und Prellungen waren die Folge des Zusammenpralls seines Rolles mit einem Hasen, was zum Sturz führte. Operativ wurde ein Wunddebrediment mit teilweiser Bursektomie sowie die Anlage einer Thorax Drainage durchgeführt. Nach der Intervention kam Herr M. zur Überwachung auf unsere Intensivstation.
1. Tag:
Wir haben Herrn M. um 10.30 Uhr vom OP übernommen. Er war kardial stabil, benötigte eine O2-Insuflation von 5 l/min und hatte dabei eine SpO2 von 98 – 99%. Herr M. war mit 2 Venenverweilkanülen und einer Thorax Drainage versorgt. Der Patient klagte über Schmerzen, welche mit Piritramid als Bedarfsmedikation behandelt und Oxycodon ergänzt wurden. Herr M. durfte im Verlauf des Tages zunächst trinken und seine eigenen Medikamente wieder zu sich nehmen. Der Patient klagte weiter über Schmerzen und ein Harnverhalt machte eine Versorgung mit einem Dauerkatheter notwendig. Laborchemisch Waren die Werte im Normbereich, abgesehen von einem erhöhten Serumkreatinin. Der Tetanusschutz musste noch abgeklärt werden.
2. Tag
Herr M. gab weiter Schmerzen im thorakalen Bereich an, was zur ergänzenden Analgesie mit Metamizol führte. Sonst war er kardial und pulmonal stabil und konnte nach Auffrischung des Tetanusschutzes auf eine periphere Station verlegt werden. Herr M. hatte bei Verlegung weiterhin einen O2-Bedarf von ca. 5l/min.
3. Tag.
Um 11.30 Uhr wurde Herr M. als Notfall von Station auf unsere Intensivstation verlegt. Der Patient klagte bei 8 – 10 l/min Sauerstoff über Atemnot, generierte darunter eine SpO2 von 91%, war tachykard und hyperton und gab starke Schmerzen an. Nach Anlage eines arteriellen Zugangs und der daraus entnommenen Blutgasanalyse wurde die Entscheidung zur Intubation getroffen. Das gewonnene Bronchialsekret war eitrig und wurde zur mikrobiologischen Untersuchung gegeben. Auch eine Blutkultur wurde nach ZVK-Anlage entnommen, sowie Urin zum weiteren Erregernachweis in die Mikrobiologie gegeben. Eine antibiotische Therapie wurde begonnen. Eine kardiale Dekompensation musste mit Kathecholaminen und Volumensubstitution behandelt werden. Die Analgosedierung wurde mit Propofol und Sufentanil begonnen und aufrechterhalten. Unter Beatmung mit BIPAP, einem PEEP von zunächst 10, im Verlauf 12 mbar, Pinsp von 24 mbar, einer AF von 16 /min hat sich Herr M. wieder stabilisiert und der FiO2 konnte sukzessive von 1,0 auf 0,6 reduziert werden. Nach Anlage einer Ernährungssonde wurde mit enteraler Ernährung begonnen (250 ml Hipp in 9h).
4. Tag.
Die Kardiale Situation stabilisierte sich bei einem MAD von ca. 70 mmHg und Kathecholamine konnten deutlich reduziert werden. Steigende Triglyceride machten eine Umstellung der Sedierung von Propofol auf Midazolam notwendig. Eine erneute respiratorische Verschlechterung zeichnete sich im Verlauf des Vormittags ab, so dass die Beatmungsdrücke erhöht und angepasst werden mussten (PEEP 17mbar; Pinsp 32mbar; VT 520ml; AF 18; AMV 9,04 l; FiO2 0,6). Der Röntgenthorax gab ebenso Anlass zur Diskussion über die weitere Therapie wie ein Oxigenierungsindex von 137 und es wurde Bauchlagerung und Kinetische Therapie erörtert. Da sich im Gespräch keine Kontraindikationen für eine Mobilisierung von Herrn M. ergaben, wurde diese mit Hilfe eines Mobilisationsstuhls („Thekla“) am Nachmittag durchgeführt um dadurch einen möglichen Benefit für Herrn M. zu erzielen und so ggf. um die Bauchlagerung herum zu kommen. Ebenfalls wurde die Analgosedierung tubustolerant gefahren, so dass eine Spontanisierung am Respirator bei erhaltenem PEEP und reduziertem Spitzendruck mit gleichbleibendem Tidalvolumen und Atemfrequenz ermöglicht wurde. Herr M. war dabei kontaktfähig und konnte auf einfache Fragen (ja/nein) adäquat antworten. Nach ca. 2h im Moilisationsstuhl und im Beisein seiner Ehefrau machten sich erste Erschöpfungszeichen bemerkbar. Herr M. wurde wieder ins Bett zurück transferiert, wo sich eine Lagerungsabhängige Verschlechterung der SpO2 (in Linksseitenlage) darstellte. Eine deutliche Sekret Mobilisierung war ebenfalls festzustellen. Die Lagerungsintervalle wurden daraufhin auf ca. 1 – 1,5 h reduziert und der Sedierungsgrad für die Nacht vertieft. Ebenso wurde zur Regeneration des Patienten für die Nacht wieder auf BIPAP umgestellt.
Tag 5.
Die Therapie vom Vortag wurde fortgeführt und Herr M. konnte 2x für 1,5 Stunden passiv mobilisiert werden. Zunächst war lediglich eine zunehmende Unruhe des Patienten zu erkennen, was aber unter Einbeziehung und Begleitung durch seine Familie während der Mobilisierungsphasen deutlich verbessert werden konnte. Zu den Zeiten der Mobilisierung und der Anwesenheit der Familie konnte die Sedierung pausiert werden. Lediglich eine hochdosierte Analgesie war notwendig. Auch konnte in diesen Phasen eine spontane Beatmungsform gewählt werden. Durch die weitere Sekret Mobilisierung verbesserte sich das Lungenbild im Röntgenthorax deutlich. Familie M. hat für Herrn M. angefangen ein Tagebuch zum Intensivaufenthalt zu führen. Der Patient hat in einem späteren Gespräch von Angst gesprochen, und er wusste nicht, wo er war uns was los war, als er durch Allarmgeräusche oder ähnliches wach wurde. Diese Angst wurde von uns zunächst fehlinterpretiert und als Durchgang oder mangelnde Sedierungstiefe gedeutet. Der PEEP wurde weiter hoch gehalten, lediglich der Pinsp und der FiO2 konnten reduziert werden.
Tag 6.
Die Mikrobiologischen Untersuchungen brachten die Erkenntnis einer Pneumonie durch Hämophilus Influenzae, welche im Bronchialsekret festgestellt wurde. Die Wirksamkeit der bereits begonnen Antibiotischen Therapie war damit bestätigt und wurde weitergeführt. In einem nachfolgenden Gespräch mit dem Patienten stellte sich heraus, dass dieser bereits vor seinem Unfall an einem kaum beachteten grippalen Infekt erkrankt war. Lagerung und Mobilisierung des Patienten musste aus personellen Gründen über das Wochenende hinweg eingeschränkt werden (verlängerte Lagerungsintervalle und Sitzpositionierung im Bett, dafür 3 x täglich). Der Daily Wake-Up konnte aber mit Hilfe und Anwesenheit der Familie von Herrn M. weiter durchgeführt werden. Die kardiale Situation stabilisierte sich ebenfalls weiter, so dass Kathecholamine nur noch niedrig dosiert laufen mussten. Da die Thorax Drainage nichts mehr förderte wurde diese entfernt. Mit häufigeren Spontanatmungsintervallen am Respirator konnten auch der PEEP und die FiO2 langsam reduziert werden und ein Oxigenierungsindex von 230 erreicht werden. Um einer nachlassenden Diurese entgegen zu wirken, wurde eine diuretische Therapie begonnen.
7. Tag
Die Behandlung wurde wie schon am 6. Tag weitergeführt und durch forcierte Diurese versucht die Lunge trockener zu fahren. Kathecholamine konnten ausgeschlichen werden. Außerdem wurde die Ängstlichkeit des Patienten erkannt und mit Lorazepam akuten Angstzuständen, zusätzlich zur Betreuung durch seine Familie, entgegengewirkt.
8. Tag
Weiterte Reduzierung von FiO2 und PEEP sowie Erweiterung der Spontanatemintervalle am Respirator. Weitere Reduzierung der Sedierung bei adäquater Analgesierung. Eine erhöhte Körpertemperatur und subjektiv empfundene Mattigkeit des Patienten ließen auf die Mobilisierung in einen Mobilisationsstuhl verzichten. Die konsequente Hochlagerung des Oberkörpers und eine intensivierte Atemtherapie durch die Physiotherapie machten aber eine weitere Mobilisierung von Trachealsekret möglich.
9. Tag
Herr M. konnte gegen Mittag extubiert werden und war unter Gabe von 6 l/min Sauerstoff pulmonal stabil. Er wurde zum aktiven Atemtraining mittels „Medi-Flow“ und „Inhalog“ angehalten und konnte selbst zustande kommendes Trachealsekret abhusten. Herr M. wurde dazu wieder Mobilisiert, zunächst noch passiv in den Mobilisationsstuhl „Thekla“. Die Ängstlichkeit und Unruhe von Herrn M. war deutlich reduziert. Er war sich seiner Situation bewusst und kooperierte bei den notwendigen pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen.
10. Tag
Eine aktive Mobilisierung des Patienten war bereits möglich und er kooperierte bei allen notwendigen Maßnahmen. Die Mobilisierungsintervalle mussten allerdings noch beschränkt werden, da Herr M. nach ca. einer Stunde im Mobilisationsstuhl erschöpft war. Die Schmerzmedikation wurde auf bedarfsorientierte Boli von Piritramid geändert.
11. Tag
Herr M. hat sich weiter Stabilisiert. Die Schmerzmedikation wurde auf eine peridurale Analgesie mittels Katheter und PCA – Pumpe umgestellt und Herr M. konnte wieder auf eine periphere Station verlegt werden.
Intensivtagebuch:
Herr M. hat uns am Tag seiner Entlassung nochmal besucht und sich zusammen mit seiner Familie bei unserm Team bedankt. Dabei haben mir seine Kinder das Tagebuch zum Intensivaufenthalt überlassen (Kopie). Einige Auszüge daraus möchte ich hier kurz wiedergeben, da sie die Empfindungen seiner Familie gut wiederspiegeln.
3. Tag
„Heute wollten Dich Fabian, Maximilian & Mama besuchen, doch Du warst nicht auf der Station, sondern wurdest zurück auf die Intensiv gelegt. Fabian und Maximilian mussten draußen warten; Mamma wurde dann mitgeteilt, dass Du ins Koma gelegt wurdest. Mama brachte Maximilian & Fabian zu Pascal und fuhr mit Kathi nochmal mit zu Dir ins Krankenhaus. Wir waren sehr traurig und haben sehr viel geweint…..“
4. Tag
„Mama hat Dich mittags besucht. Du hast teilweise die Augen geöffnet und reagiert, wenn Mama mit Dir gesprochen hat. Später hat Dich Mama nochmal mit Evi besucht. Kurz bevor Evi und Mama gekommen sind, hat Dich der Pfleger noch auf einen Stuhl gesetzt. Du warst gut ansprechbar und laut den Ärzten ist das raussetzten sehr gut für Dich. Kathi ging in dieser Zeit auf´s Landratsamt und meldete den Roller ab. … Später waren wir alle Drei bei Dir. Dein Pfleger meinte, wir sollten mit Maximilian, Fabian und Oma ganz ehrlich reden. Zuhause haben wir es Ihnen dann erzählt und erklärt. Es flossen wieder sehr viel Tränen.
5. Tag
Mama hat auf der Station angerufen. Der Pfleger meinte, wir sollen um halb fünf kommen, dann setzt er Dich auf den Stuhl. Fabian und Mama sind zuerst zu Dir reingegangen. Für Fabian war es sehr schwer, er lief sofort wieder raus. Der Pfleger hat dann mit Fabian gesprochen und ihm alles erklärt. Er hat sich schnell wieder beruhigt. In dieser Zeit war Kathi und Maximilian bei Dir. Wir haben mit Dir gesprochen und Dir die Hand gehalten. Du hast sehr viel selber geatmet in dieser Zeit. Wie wir bei Dir waren hat ein Rettungshubschrauber einen Patienten gebracht. Fabian hat sich sehr dafür interessiert. Weil man es von Deinem Zimmer aus besser sah, kam er nochmal zu Dir ins Zimmer. Nachher ist er nochmal zu Dir an den Stuhl gekommen und hat Dir die Hand gehalten. Beim Rausgehen hat dann Maximilian und Fabian stark geweint und waren sehr traurig. Maximilian hat sich während der Zeit bei Dir stark zusammengerissen.
….
8. Tag
… Nachmittags besuchten Dich Mama und Evi. Du hast nicht selbst geatmet. Hast aber hin und wieder die Augen geöffnet und Deine Beine bewegt. Deine Hände und Beine waren immer noch Dick, Wasser hat sich angesammelt. Abends besuchten Dich dann Mama und Kathi, das war so gegen halb sechs. Du hast selbst geatmet. Die Schwester meinte, Du hast so gegen 16.00 Uhr mit dem Atmen begonnen und machst das sehr gut. Immer wenn Du kurzzeitig das Atmen vergessen hast oder einfach nicht geatmet hast, hat die Maschine Dich unterstützt. Auch abends hast Du uns immer wieder angeguckt und Dich bewegt. …
9. Tag
Mama und Evi besuchten Dich nachmittags. Sie waren sehr überrascht. Du warst wach!! Du warst noch etwas verwirrt, aber Du warst wach. Die Sonde, die Du in der Nase hattest, hast Du Dir selber rausgemacht. Deine Stimme war rau und sehr tief. Das lag bestimmt an dem Beatmungsschlauch, den Du fast eine Woche im Hals hattest. Du warst sehr ruhig und sehr brummig! Egal, Du warst wach!!
10. Tag
Du bist wach und bekommst alles mit, bist unser alter Papa!
Schlusswort:
Abschließend möchte ich ein paar Worte zur Frühzeitigen Mobilisierung schwerkranker Patienten verlieren. Herr M. war ein gutes Beispiel an unserem Klinikum, wie die frühzeitige Aktivierung und Mobilisierung eines Patienten den Genesungsprozess positiv beeinflussen kann. Ist es nicht sogar so, dass die Immobilität dem Gesundheitszustand sogar verschlechtert?
R. A. J. Asher schreibt am 13. Dezember 1947 im British Medical Journal zum immobilen Patienten:
„Was für ein pathetisches Bild zeigt er: Das Blut verklumpt in seinen Gefäßen, der Kalk rieselt aus seinen Knochen, der Kot verstopft sein Kolon, das Fleisch verfault an seinem Gesäß, der Urin leckt aus seiner überblähten Blase, und der Geist verdampft aus seiner Seele.“
Es ist keine neue Erfindung und auch die Erkenntnis des Profites der Betroffenen ist grundsätzlich nichts Neues, schließlich haben wir schon immer Patienten mobilisiert und aktiviert. Leider ist zumindest an unserem Klinikum die Zeit für den Patienten immer knapper geworden und der Schweregrad der Erkrankungen stetig gestiegen. Allerdings bietet genau hier die „Frühmobilisierung“ einen Ansatz, Patienten schneller gesunden zu lassen und in Kombination mit modernen intensivmedizinischen und physikalischen Behandlungsmetoden eine Möglichkeit der Arbeitserleichterung. Allerdings erfordert dies ein hohes Engagement jedes Einzelnen. Herr M. und seine Familie haben es uns gedankt.
Ich habe mich über die gute Zusammenarbeit aller an der Behandlung beteiligten gefreut, denn nur so haben wir es geschafft ein, per Definition, drohendes ARDS abzuwenden und Herrn M. schnell wieder auf die eigenen Beine zu bringen.
Christian Kerschensteiner, Fachkrankenpfleger A&I
Intensivpflege auf höchstem Niveau: Frühe Mobilisierung, täglicher Aufwachversuch, Intensivtagebuch.
Frühzeitige Mobilisierung - Eine Chance auch für schwerstkranke Patienten
Mittwoch, 18. Mai 2011